Die tiefen Sorgenfalten betuchter Hausbesitzerwitwen
von Volker Looman, Finanzanalytiker in Stuttgart
Liebe Anlegerinnen, verehrte Millionärinnen! Ich wende mich heute an Sie, weil mich in den letzten Wochen mehrere Damen um Rat gefragt haben, was sie mit ihren alten, nein, nicht Männern, sondern Häusern machen sollen. Es handelte sich um Frauen, alle um die 60 herum, sogenannte Hausbesitzerwitwen, die zwar ihre Ehemänner verloren haben, dafür aber im Besitz respektabler Zinshäuser sind. Die vermieteten Häuser sind in die Jahre gekommen, doch die Besitzerinnen sind noch gut in Schuss, wenn ich das so sagen darf. Trotzdem sind die Damen des Vermietens müde und haben keine Lust mehr, sich mit säumigen Mietern und tropfenden Wasserhähnen herumzuschlagen. Sie wollen frei sein und ihr Leben genießen. Folglich ist es kein Wunder, dass sich diese Hausbesitzerwitwen überlegen, die Objekte zu verkaufen und die Erlöse „irgendwie“ zu verleben. Was meinen Sie dazu? Würden Sie die Zähne zusammenbeißen und weitermachen? Oder würden Sie verkaufen und das Geld in Anleihen und Aktien anlegen?
Ich will Ihnen das Problem an einem Beispiel schildern, damit Sie etwas zum Knobeln haben. Die Hausbesitzerwitwe ist 61 Jahre jung und guter Hoffnung, noch 30 Jahre zu leben. Das Zinshaus des Verblichenen ist 40 Jahre alt und wirft zurzeit eine Jahresmiete von 120000 Euro ab. Davon müssen rund 20000 Euro in die laufende Instandhaltung gesteckt werden. Außerdem hält der Fiskus die Hand auf. Er fordert etwa 22000 Euro pro Jahr, so dass der Anlegerin monatlich 6500 Euro bleiben. Das sieht auf den ersten Blick nicht ganz schlecht aus, wie es im Schwäbischen heißt. Trotzdem hat der Ertrag (s)einen Preis. Die Frau muss sich mit zwölf Mietern herumschlagen, das Haus wird nicht jünger, und die Witwe hat trotz der ordentlichen Rente das Gefühl, finanziell nicht frei zu sein.
Bevor wir uns um Alternativen kümmern, müssen wir uns noch etwas intensiver mit dem Haus beschäftigen. Vor allem ist eine grobe Schätzung der Rendite des Hauses nötig. Das Objekt könnte heute für 25 Jahresmieten verkauft werden. Das sind 3Millionen Euro. Das Haus ist schuldenfrei, so dass die drei Millionen ohne Abstriche für Alternativen zur Verfügung stehen. Die Anlegerin hat die Hoffnung, die jährlichen Nettomieten von 100 000 Euro in den nächsten 30 Jahren im Schnitt um 1 Prozent pro Jahr steigern zu können. Im Gegenzug glaubt sie jedoch nicht daran, dass der Wert des alten Gemäuers steigen wird. Sie rechnet damit, dass der Wert des Hauses im Laufe der Zeit auf 2Millionen Euro sinken wird. Dahinter steckt die Überlegung, dass sich der aktuelle Gebäudewert von 2Millionen Euro halbieren wird und der heutige Bodenwert von 1 Million Euro konstant bleiben wird. Diese drei Annahmen führen unter dem Strich zu einer jährlichen Rendite von 2,1 Prozent nach Steuern. Sie ist die Vorgabe für das Wertpapierdepot. Die 2,1 Prozent müssen um die Abgeltungsteuer von 26,375 Prozent erhöht werden, so dass vor Steuern eine Rendite von rund 3 Prozent notwendig ist.
Nun wird es heikel, weil die Frage zu klären ist, wie hoch der Anteil der Anleihen sein muss oder wie hoch die Quote der Aktien sein sollte, um finanziell über die Runden zu kommen. Falls das Depot zu 100 Prozent aus „sicheren“ Anleihen besteht, muss sich die Millionärin darauf einstellen, dafür keine Zinsen zu bekommen. Das mag auf den ersten Blick ein Drama sein, wird bei genauem Hinsehen aber nicht zum Untergang des Abendlandes führen. Die Frau kann die 3Millionen Euro im besten Sinne des Wortes „verfuttern“. Sie entnimmt dem Depot monatlich 6500 Euro und steigert die Ausgaben jedes Jahr um 1 Prozent. Dann werden in 30 Jahren noch 287000 Euro auf dem Konto liegen. Das ist für viele Menschen zwar kaum zu ertragen, doch ich sehe das ein bisschen anders, vor allem dann, wenn keine Erben vorhanden sind. Selbst wenn sich gierige Nachkommen die Lefzen lecken, erlaube ich mir die Frage zu stellen, wo geschrieben steht, dass drei Millionen „um jeden Preis“ erhalten werden müssen.
Bevor ich mich jetzt dem Verdacht aussetze, ein egoistischer Geizkragen zu sein, will ich Ihnen die Zahlen liefern für ein Depot, das zu jeweils 50 Prozent aus Anleihen und Aktien besteht und in 30 Jahren wie bei der Immobilie ein Restguthaben von 2Millionen Euro aufweist. Die Anleihen mit ihren 1,5 Millionen Euro werfen weiterhin keinen Ertrag ab. Sie werden im Laufe von 30 Jahren verbraucht, so dass eine Monatsrente von 3594 Euro zur Verfügung steht, die jedes Jahr um 1 Prozent ansteigt.
Die Aktien haben einen Anfangswert von 1,5 Millionen Euro. Sie müssen in den nächsten 30 Jahren monatlich 2906 Euro abwerfen, die jährlich um 1 Prozent steigen, und am Ende der Veranstaltung mindestens 2 Millionen Euro wert sein. Diese Vorgabe erfordert eine jährliche Rendite von 4,5 Prozent vor Steuern, und nun dürfen Sie grübeln oder würfeln. Wird sich ein Aktiendepot mit 2000 bis 3000 Titeln bis 2047 mit jährlich 4,5 Prozent rentieren? Die Frage kann Ihnen natürlich kein Mensch beantworten, doch ich bin der Meinung, dass die Chancen nicht schlecht stehen. Viel wichtiger ist in meinen Augen die Frage, wie labil oder stabil Sie sind, wenn Sie mit dem Tausch eines Zinshauses in ein Wertpapierdepot liebäugeln, das zur Hälfte aus Aktien be-steht. Das Aktiendepot wird mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht jedes Jahr „gleichmäßig“ um 4,5 Prozent anwachsen. Es wird mal um 10 Prozent zulegen, es wird Jahre geben, in denen es um 15 oder 20 Prozent fällt, und es wird Abschnitte geben, in denen es mit 2 oder 3 Prozent vor sich hindümpelt. Das veranlasst mich zu der Frage, wie Sie diese Berg-und-Tal-Fahrt verkraften. Werden Sie übermütig, falls die Kurse in die Höhe schießen, werden Sie schwermütig, wenn die Preise in den Keller sacken? Oder bleiben Sie gelassen und kühl, so nach dem Motto: Eine Dame aus gutem Hause steht das durch? Bestimmt merken Sie, werte Hausbesitzerwitwen, dass drei Millionen nicht schlecht sind, aber nicht die große Freiheit bieten. Hier hängen Sie von Mietern ab, dort hängen Sie am Tropf der Börse. Folglich müssen Sie sich entscheiden, welche „Freiheit“ für Sie attraktiver ist. Ist das die „sichere“ Immobilie mit ihren Mietern? Oder sind das „schwankende“ Wertpapiere ohne Gesicht? Ich finde das zweite Modell attraktiver, weil es mehr Freiheit bietet. Dafür würde ich sogar in Kauf nehmen, dass in 30 Jahren auf meinem Grabstein stehen wird: Hier ruht Volker Looman, vormals Hausbesitzerwitwer, zuletzt aber Börsenspekulant!
Der Artikel erschien am 07.03.2017 in der FAZ.